Hildegard von Bingen

Die Schriften der heiligen Hildegard von Bingen, Äbtissin des 12. Jahrhunderts, sind heute insofern wieder aktuell, weil Hildegard von Bingen bereits vor über achthundert Jahren erkannte, dass Körper, Seele und Geist ein Dreigespann bilden, das ineinanderverflochten über unser Wohlergehen bestimmt. Bekannt als eine der großen Mystikerinnen Deutschlands, nannte man Hildegard von Bingen bereits zu Lebzeiten ehrfurchtsvoll eine „Tischgenossin Gottes“. Sie besaß die Gabe der inneren Schau, doch war sie weder weltfremd noch schwebte sie in esoterischen Sphären. Neben ihren wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnissen besaß Hildegard von Bingen ein tiefes Verstehen der Dinge, wie sie wirklich sind. Sie hatte eine Stufe des Verstehens erreicht, die von beeindruckender Präsenz und Achtsamkeit getragen wurde. Und dabei erkannte sie, dass das Gros der Krankheiten, mit denen wir Menschen uns plagen, insbesondere psychische beziehungsweise seelische Leiden, immer in dem Zusammenhang Körper-Seele-Geist zu betrachten sind.  Daher lohnt es sich gerade in Bezug auf Achtsamkeit das Wissen dieser weitsichtigen Frau eingehender zu betrachten.

Die Welt en miniature

Natürlich ging es Hildegard von Bingen als strenggläubige Äbtissin um das Große Ganze, um das Göttliche, das alles Leben durchzieht. Doch unabhängig von der Glaubensfrage, erkannte sie, dass jede Zelle des Körpers von unserer Seelenkraft durchzogen wird. Damit lenkt unsere Seele alle Lebensvorgänge im Organismus. Ob unsere Seele nun etwas Göttliches ist oder nicht, es liegt in unserer Verantwortung, unserer Seele zu lauschen und mit entsprechender Achtsamkeit dafür zu sorgen, dass es unserer Seele gut geht. Denn alles, was wir über unsere Sinne (Schmecken, Hören, Riechen, Tasten, Sehen) „reinlassen“ wirkt auf unsere Seele. Damit vertrat Hildegard von Bingen in ihren medizinischen Schriften bereits einen ganzheitlichen Ansatz zur Heilung von Krankheiten. Kein Wunder also, dass sie damit auch eine glühende Verfechterin der Selbstverantwortung war. Wir haben es in der Hand, wie gut wir für unser Seelenheil sorgen und uns achtsam dieser Selbstverantwortung für den „kleinen Kosmos Mensch“ bewusst werden. Hildegard von Bingen spricht in ihren Texten oft davon, dass der Mensch ein Kosmos in Miniatur sei, ein Mikrokosmos. Denn der Mensch sei aus den gleichen Elementen geschaffen wie die Natur. Alle Vorgänge in uns spiegeln sich in der Natur wieder. Und je achtsamer wir Selbstverantwortung übernehmen, desto besser sorgen wir auch für das Größere, dessen winziger Teil wir sind.

Grünkraft als Lebenselixier

Hildegard von Bingen schreibt von der sogenannten Viriditas – Grünkraft -, die in allem enthalten ist. Was meint sie damit? Grünkraft kann man auch mit dem Wort Grundkraft interpretieren. Der Mensch kommt aus der Natur, er ist Teil der Natur. Natur bedeutet Leben. Und Grünkraft ist damit die alles innewohnende Kraft der Schöpfung, die in allen Pflanzen, Tieren und Geschöpfen auf der Erde vorhanden ist. Das Grün der Blätter symbolisiert für Hildegard von Bingen das Band zwischen Schöpfer und Schöpfung, ohne das kein irdisches Leben möglich ist. Deshalb rät Hildegard von Bingen dazu, sich möglichst von Produkten aus der Natur zu ernähren und sich ebenfalls möglichst viel in der Natur aufzuhalten, um eben dese Kraft – Lebensenergie – zu tanken. In der Achtsamkeit spüren wir schnell, wie uns beispielsweise ein achtsamer Spaziergang im Wald nicht nur körperlich sondern auch seelisch stärkt. Da Hildegard von Bingen in Bezug auf die Grünkraft auf die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde verweist, gibt es natürlich keinen besseren Ort als die Natur, um sich über die Verbindung mit den Elementen mit Grünkraft zu stärken.

„Die Seele ist die grünende Kraft im leibe; sie wirkt mittels des Leibes und der Leib mittels der Seele, weil der Leib des Menschen durch sie wächst und gedeiht, wie auch die Seele durch die Feuchtigkeit des Leibes fruchtbar wird. Deshalb hat die vernünftige Seele eine gewisse Grünkraft in ihrem Vermögen, mit welcher sie die Weichheit der Gewebe und die Derbheit der Knochen und alle Gefäße durchdringt …“

Hildegard von Bingen*

Das rechte Maß der Dinge

Hildegard von Bingen war keine Predigerin von Richtlinien oder Maßregelungen. Ihr ging es bei allem immer um das individuelle Maß der Dinge. Jeder Mensch muss für sich entscheiden, welche Maß ihm gut tut. Sie benutzte hier den Begriff Discretio. Aus dem Lateinischen übersetzt geht es um die Fähigkeit zu differenzieren und zu ermessen. Das rechte Maß – sei es in Bezug auf Familie, Arbeit, Freizeit, Freunde, Ernährung, Schlaf, Bewegung etc. – bietet das gesunde Fundament für ein freudvolles Leben. Achtsamkeit ist hierbei sicherlich ein sehr guter Weg, um zu erspüren, welche Bedürfnisse wir überhaupt haben, wonach unser Körper sich sehnt und was unser Geist braucht. In der Achtsamkeit üben wir uns darin, zu einer inneren Balance zu kommen. Depression oder Burnout sind selbstverständlich typische Beispiele dafür, wo Disretio – das rechte Maß – überschritten wurde. Hildegard von Bingen erkannte hier also bereits vor langer Zeit, welche Gefahr für unsere Gesundheit besteht, wenn wir nicht achtsam auf unser „inneres Ohr“ lauschen. Denn äußere Beschwerden beruhen meistens auf einem inneren Konflikt. Und hier ist jeder Einzelne für sich selbst gefragt, denn jeder Mensch ist anders.

„Wenn aber der Mensch in Vermessenheit größere Dinge zu tun versucht, als er mit seinen Kräften ausführen kann, holt ihn die Seele zum Maß seiner Fähigkeit zurück und ordnet sein Tun besser.“

Hildegard von Bingen*

Die Gabe der Unterscheidung

Das rechte Maß zu finden ist oft leichter gesagt als umgesetzt. Hildegard von Bingen spricht hier von Ratio, der Gabe der Unterscheidung. Ohne Urteilsvermögen beziehungsweise achtsames Gewahrwerden, sind wir besonders heute, wo täglich eine Flut an Informationen auf uns einstürmt, schnell verloren. Schnelles Urteilen, was ist relevant, was nicht, und sicheres Erkennen von Manipulationen und Verführungen sind Vorraussetzung dafür, für sich selbst das rechte Maß zu finden. Ratio beinhaltet jedoch auch Selbstreflexion. Zum Beispiel achtsam zu hinterfragen: Welche Gedanken verleiten uns zu welchem Handeln? Welche Glaubenssätze, Konditionierungen und Gewohnheiten halten uns in unserem Hamsterrad gefangen? Hildegard von Bingen sah in Ratio eine Geisteshaltung, die den Menschen dazu motiviert, sich mit Neuem auseinanderzusetzen und in Achtsamkeit zu erkennen, welche Routinen schaden und den eigenen Weg versperren.

„Der Mensch ist und bleibt das vernünftige Wesen, während sich die übrige Welt nur in ihrer elementaren Natürlichkeit zu repräsentieren vermag. Mit den Flügeln der Vernunft ist er lebendig.“

Hildegard von Bingen*

Die Heilwirkung von Lebensmitteln

Bekannt ist Hildegard von Bingen vor allem durch ihre besondere Form des Fastens sowie durch die „Hildegard-Küche“, die viele Rezepte basierend auf Dinkel und ausgewählten Gewürzen enthält. Hildegard von Bingen ging es in Bezug auf die Ernährung um Achtsamkeit. Sie verwendet hier den Begriff Subtilität. Subtilität bezieht sich auf die Heilwirkung und die Bekömmlichkeit von Lebensmitteln. Die Nahrung, die wir unseren Körper zufügen, entscheidet darüber, wie wir uns fühlen. Sobald wir unseren Körper achtsam ernähren, aufmerksam hineinspüren, wie sich bestimmte Lebensmittel auf unseren Energiehaushalt auswirken, auf unseren Darm und auch auf unsere Stimmung, sorgen wir gut für unser Wohlbefinden. Hildegard von Bingen unterteilte die Nahrungsmittel in warme und trockene, feuchte und kühle und neutrale Lebensmittel. Beispielweise sind Orangen kühlend und sollten daher im Sommer gegessen werden. Kürbis ist neutral und zu jeder Jahreszeit bekömmlich und Dinkel wirkt wärmend. Hildegard von Bingen gab keine bestimmte Diät vor, im Gegenteil, sie plädierte für Genuss und Freude beim Essen. Von ihren Empfehlungen lassen sich heute Lebensregeln ableiten, wie zum Beispiel bei der Auswahl der Lebensmittel auf deren Nützlichkeit für den Körper zu achten.Vor allem ging es ihr bei der Ernährung um Achtsamkeit, um das achtsame Spüren der Wirkung auf Körper, Geist und Seele.

In der Natur den vier Elementen nachspüren

„Gott erschuf auch die Elemente der Welt. Diese sind auch im Menschen und der Mensch wirkt in ihnen. Sie sind Feuer, die Luft, das Wasser und die Erde. Diese Elemente sind so eng miteinander verbunden, dass keines von einem anderen getrennt werden kann.“

Hildegard von Bingen*

In ihren Texten schreibt Hildegard von Bingen, dass das gesamte Universum durch die vier Elemente – Feuer, Wasser, Luft und Erde – gefestigt sei. Und diese vier Elemente wirken auch im Menschen, denn der Mensch sei eine Art Mikrokosmos. Wir brauchen die Luft zum Atmen, Wasser ist unser Lebenselixier, denn ohne Wasser würde nichts wachsen. Zudem ist Wasser für unseren Stoffwechsel und unsere Körpersäfte wichtig. Ohne Wärme würden wir erfrieren und ohne die Kraft der Sonne wäre Wachstum nicht möglich. Das Feuer spendet uns Lebensenergie und die Erde letztendlich ist unser Nährboden. In der Achtsamkeit wird immer wieder dazu angeraten, sich mit der Natur zu verbinden. Tatsächlich ist es spannend, sich zum Beispiel bei einem Spaziergang einmal bewusst auf diese vier Elemente einzulassen und die Kraft zu spüren, die diese Elemente unserem Leben verleihen. Ausgehend von der Bedeutung der vier Elemente ist es nicht verwunderlich, dass das Heilwissen der Hildegard von Bingen auf Produkten aus der Natur basiert, zum Beispiel Kräuter, Edelsteine, Gewürze etc.

Die Kraft des Feuers

Hildegard von Bingen setzt mit dem Element Feuer unseren Willen in Verbindung. Bekannt ist der Ausdruck „für etwas zu brennen“. Feuer ist Lebensenergie und unser inneres Feuer treibt uns nicht selten zu unglaublichen Handlungen an. Doch sieht Hildegard von Bingen in dem Feuer nicht nur das Lodernde, sozusagen unseren inneren Motor, sondern auch das Wärmende und Weiche und damit das Geduldige und das gütige Wohlwollen. Um uns mit Feuer zu stärken, können wir beispielsweise im Schein einer Kerze meditieren oder einige Minuten in Achtsamkeit eine Flamme beobachten.

Luft bedeutet Atmen

Hildegard von Bingen ordnete die vier Elemente in ihrer Wirkung auf den Menschen an. Steht das Feuer für das Wollen und für Körperwärme, so steht die Luft für das Atmen, aber auch für das Denken. Selbstverständlich nehmen wir mit jedem Atemzug frische Luft auf und geben verbrauchte ab. In der Achtsamkeit verbinden wir uns über unseren Atem mit unseren Köper, um uns gewahr zu werden. Luft ist aber auch eine Art Transportmittel, denn über die Luft werden Schallwellen verbreitet. Und hier kommt die Wirkung in Bezug auf das Denken ins Spiel: Nicht alles, was unseren Ohren zugetragen wird, ist wahr. Klatsch, Tratsch, Vorurteile und andere Verwirrungen gelangen über unsere Ohren in unser Denken. Und ebenso geht es Hildegard von Bingen auch um die Eigenverantwortlichkeit, denn was wir an Worten hinaustragen, bewirkt bei anderen Menschen ebenfalls etwas. Achtsames Erkennen von Resonanzen sielt hier auch mit hinein. Daher ist das achtsame Erkennen unserer Gedanken so wichtig, um Gutes von Leidbringendem zu unterscheiden.

Wasser ist Bewegung

Das Wasser in unseren Körperzellen ist für viele biochemische Vorgänge wichtig, wie zum Beispiel für den Zellstoffwechsel oder den Abtransport verbrauchter und giftiger Stoffe sowie für die Ernährung der Zellen. Ohne Nahrung können wir es gut ein paar Tage aushalten, ohne Wasser dagegen wird es schnell kritisch. Hildegard von Bingen erkannte die Bedeutung des Wassers für alle unsere Körpersäfte. Außerdem bedeutet Wasser Bewegung. Man könnte sagen, in unserem Körper „fließt“ es unentwegt. Interessant auch, dass in einigen Hildegard von Bingen-Übersetzungen dem Element Wasser der Tastsinn zugeordnet wird. Wollen wir Wasser festhalten, ist dieses nicht möglich. Es zerrinnt uns zwischen den Fingern. Im Buddhismus wiederum spricht man von Anhaftung als Ursache von Leid. Auch im Leben können wir nichts festhalten. Diese Erkenntnis erst befreit uns von allem leidvollen Denken und Wollen. Erst im Loslassen können Gefühle von Liebe und Freude wie das Wasser frei fließen.

Die Erde gibt uns Halt

In der Achtsamkeit gibt es eine schöne Übung, bei der man bewusst einen Schritt nach dem nächsten setzt und dabei den Boden unter den Füßen spürt. Hildegard von Bingen weist in ihren Texten deutlich darauf hin, dass wir einerseits die Verantwortung für unseren Körper tragen, andererseits auch die Verantwortung für die Erde, die uns trägt. Egal, welche Sehnsüchte, Begierden und Geistesregungen in uns brodeln, wir können der Welt nicht entfliehen. Und damit steht das Element Erde auch für unser Handeln. In der Praxis der Achtsamkeit können wir uns anschauen, was uns innerlich bewegt, um dann unser Handeln hier auf der Erde entsprechend auszurichten. Vielleicht mag auch der Aspekt der „Erdung“ eine Rolle spielen. Die Verbindung zur Erde achtsam zu spüren, lässt uns die Verantwortung fühlen, die wir in uns tragen. Hildegard von Bingen verstand die Erde somit nicht nur als Lieferant unserer Nahrung sondern als unsere Basis, als unseren Boden unter den Füssen, der uns in unser Handeln vertrauen lässt.

Ausgewogene Balance in allen Lebensbereichen

 „Gott hat ja für die vernunftbegabte Seele eine Wohnstätte in großer Vollkommenheit geschaffen, dass sie in ihr alle ihre Tugendkräfte verwirklichen kann, so wie auch der Mensch sein Haus baut, um in ihm alles, was er will, zu verrichten.“

Hildegard von Bingen*

Hildegard von Bingen ging es in Bezug auf einen guten Umgang mit sich selbst vor allem um folgende vier Aspekte: Ernährung, Schlaf, Bewegung und Ruhe. Schenken wir diesen Bereichen unseres Lebens achtsame Aufmerksamkeit, sorgen wir gut und verantwortungsvoll für uns selbst. Statt sich also bei der Ernährung zum Beispiel mit Diätplänen zu quälen oder viel Geld für Nahrungsmittelergänzungen auszugeben, verweist Hildegard von Bingen auf einfachste Ernährungsgrundlagen, die bereits entscheidend für unser Wohlbefinden sind. Beispielsweise bringen zu kalte Getränke oder Speisen unser Kälte-Wärme-Verhältnis im Körper durcheinander. Besteht eine Mahlzeit aus zu vielen unterschiedlichen Produkten, muss unser Körper viel Energie für die Verdauung aufbringen. Energie, die uns anschließend für andere Tätigkeiten fehlt. Und Hildegard von Bingen rät auch dazu, jede Mahlzeit in dem achtsamen Bewusstsein anzurichten, seinem Körper jetzt etwas Gutes zu tun. Diese Einstellung führt zu einem entsprechend achtsamen Verzehr. Wer sich ein wenig mit der „Hildegard-Küche“ auskennt, der weiß, dass Hildegard von Bingen ein großer Dinkel-Fan war. Diese Getreideart ist sicherlich im Vergleich zu anderen Sorten extrem gesund, da sie reich an wertvollen Inhaltsstoffen ist (z.B. B-Vitamine, Kieselsäure, Thiocyanat = natürliches Antibiotikum). Doch mit Blick auf andere Ernährungskonzepte, berücksichtigt Hildegard von Bingen immer die unterschiedliche Konstitution und Veranlagung jedes einzelnen Menschen. Daher liegt es an uns, mithilfe von Achtsamkeit in unseren Körper zu spüren.

Ausreichend Schlaf für die Seele

Langschläfer sind häufig verpönt und andere Menschen brüsten sich damit, nur ein minimales Quantum an Schlaf zu benötigen. Schlaf ist jedoch extrem wichtig, denn unser Körper braucht ausreichend Schlaf zur Regeneration. Und unsere Psyche ganz genauso. Wie oft reagieren wir genervt oder gestresst einfach nur aus der Tatsache heraus, dass uns Schlaf fehlt. Auf ausreichend Schlaf zu achten ist ein Akt der Wertschätzung uns selbst gegenüber. Hildegard von Bingen empfahl übrigens den Mittagsschlaf. Nicht gleich direkt nach dem Essen und nicht länger als zwanzig Minuten, sonst kommt man leicht aus dem normalen Wach-/Schlafrhythmus. Am besten man achtet auf einen mehr oder weniger konstanten Rhythmus, damit der Körper sich einem Biorhythmus anpassen kann. Darunter verstehen Mediziner die Anpassung des Menschen an den Wechsel von Tag und Nacht, also von Ruhe und Aktivität. Aufgrund der heutigen Erreichbarkeit rund um die Uhr kann uns dieser Rhythmus leicht abhanden kommen.

Bewegung und Ruhe im Wechsel

Hildegard von Bingen verstand, dass alles Im Leben auf Polarität beruht. Männlich und weiblich, Licht und Schatten und so auch Bewegung und Ruhe. Achtsamkeit lässt uns schnell spüren, wann unser Körper Ruhe braucht oder wann wir uns bewegen müssen, um wieder in unsere Energie zu kommen. Am besten funktioniert das Erspüren unserer energetischen Bedürfnisse über den Atem. Je öfter wir uns täglich über den Atem mit unseren Körper verbinden, über zwei oder drei tiefe Atemzüge achtsam in unseren Körper hineinspüren, um so einfacher fühlen wir, was wir tatsächlich brauchen. Oft sind leichte Verstimmungen, beispielsweise Lustlosigkeit oder Antriebsschwäche einfach nur ein Zeichen dafür, dass unser Körper sich bewegen möchte. Das muss nicht gleich das komplette Sportprogramm sein, sondern ein paar Schritte oder ein ausgiebiges Strecken und Recken reichen meist schon aus, um anschließend wieder gestärkter an den Schreibtisch zurückkehren zu können.

„Der Strom fließt nicht zu den Menschen, die ihn zwar kennen, aber nicht zu ihm kommen wollen, sondern sie müssen zu ihm hinzutreten, wenn sie sein Wasser zu schöpfen begehren.“

Hildegard von Bingen*

Umgang mit den Wogen des Lebens

Entsprechend der Polarität stellt Hildegard von Bingen in ihrem Buch der Lebensverdienste 35 Tugenden und Laster vor (auch bekannt als Katalog der Tugenden und Laster). Hierbei geht es um eine Auflistung unserer inneren Widersacher und dem gegenüberstehend entsprechende Tugenden beziehungsweise Geisteshaltungen, die diese Widersacher in die Schranken weisen. Nach dem Motto, dass hinter jedem inneren Feind auch ein innerer Freund steckt. Hildegard von Bingen erkannte somit, dass alles Negative an Gedanken und Gefühlen uns schwächt, uns Vitalität und Lebensfreude raubt. Ihr Katalog listet 35 Kräfte auf, zum Beispiel Zorn und Neid mit den Gegenkräften Geduld und Wohlwollen. Diese Kräfte wirken tief in uns. Stress, Zeitdruck, Überarbeitung, überhöhte Ansprüche und der Druck von außen machen es oft schwer, die positiven Gegenkräfte zu mobilisieren. In der Achtsamkeit haben wir jedoch die Chance, derartige Eneregien zu entlarven und entsprechende Gegenkräfte, die nach Hildegard von Bingen als Tugenden bezeichnet werden, zu nähren. Der Äbtissin ging es dabei auch darum, zu verstehen, dass sämtliche dieser Energien nicht nur auf unsere Seele wirken sondern auch körperlichen Einfluss haben. Das ist leicht nachvollziehbar, denn wie oft sieht man einer Person bereits den Gram an, der sich tief ins Gesicht gezeichnet hat. Ganz zu schweigen von den psychosomatischen Leiden, Depressionen oder Burnout, alles Erkrankungen, bei denen sich das Seelenleid auch körperlich zeigt. Vielleicht greift hier bereits eine der einfachsten Achtsamkeitsübungen: Jeglicher Situation mit einem Lächeln zu begegnen, um so das in uns ruhende Wohlwollen zu aktivieren. Letztendlich ist der Katalog der Tugenden und Laster auch als ein Appell Hildegard von Bingens zu verstehen, durch die achtsame Gewahrwerdung unserer Gedanken und Gefühle mehr Selbstverantwortung zu übernehmen und mutiger Entscheidungen für das eigene Wohlergehen zu treffen.

„Wenn nämlich der Zorn mein Zelt entflammen will, schaue ich auf die Güte Gottes. Ihn hat niemals der Zorn berührt. So werde ich sanfter als die Luft, die mild die trockene Erde benetzt, und empfinde geistliche Freude, wenn die Tugenden beginnen, in mir ihre Lebenskraft zu entfalten.“

Hildegard von Bingen*

Über die Sinne zum Herzen

Um selbstverantwortlich gut für uns zu sorgen müssen wir uns achtsam unseren Sinnen zuwenden. Denn alle Reize, denen wir im Laufe des Tages ausgesetzt sind, werden über unsere Sinne ins Gehirn geleitet. Hildegard von Bingen war sich der Bedeutung unserer Sinne sehr bewusst. Abgesehen von dem achtsamen Essen ging es ihr auch darum, zum Beispiel achtsam zu spüren welche Düfte uns erfreuen. Mit Duftölen lässt sich wunderbar experimentieren: Als Badezusatz, Massageöl oder einfach ein paar Tropfen auf das Schlafkissen getröpfelt. Einige Düfte wirken entspannend, andere stärken den Geist und wieder andere rufen Erinnerungen aus der Kindheit in uns wach. Je achtsamer wir uns auf unser Riechen einlassen, desto sensibler werden wir für äußere Reize und können schneller erkennen, welche äußeren Faktoren unser Wohlergehen beeinträchtigen. Ebenso lässt sich dieses achtsame Erleben auch auf das Hören ausbreiten. Täglich fünf Minuten der Stille zu lauschen ist beispielsweise eine tolle Übung, um der Stille in uns selbst näher zu kommen. Hildegard von Bingen macht in ihren Texten noch auf einen weiteren Aspekt des Hörens aufmerksam: Sie bezeichnet die Ohren als „Flügelchen der Vernunft“. Unsere Seele hört mit. Denn je achtsamer wir hören, desto feinfühliger werden wir auch für das Ungesagte. Wir hören dann bereits an der Tonlage einer Person, was seine Worte verschleiern. Und es geht beim achtsamen Hören auch darum, einmal darauf zu achten, wie viel Negatives wir täglich über unsere Ohren aufnehmen, seien es die Nachrichten im Radio und Fernsehen oder das ständige Klagen der Menschen über alltägliche Probleme. Hildegard von Bingen erkannte, dass unsere Ohren ein wichtiges Sinnesorgan zum Schutz unseres Seelenheils und für ein verständnisvolles Miteinander ist.

Das Leben in die Hand nehmen

„Der Mensch führt mit seinen Händen und Armen alles aus, was er in seinem Wissen plant. …. Der Mensch herrscht durch das Wort und wirkt mit der Hand. ….. Die Bewegung der Hände und Füße deutet auf die Freude der Seele an guten Taten. Was der Mensch mit seinem Werk in linker und rechter Hand bewirkt, das durchdringt das All.“

Hildegard von Bingen*

Hildegard von Bingen fordert uns auf, uns einmal bewusst zu machen, was unsere Hände täglich für uns leisten und wie wichtig sie auch im Miteinander sind. Beispielsweise streicheln wir unserem Partner tröstend die Wange, halten die Hand eines Kranken, falten die Hände zum Gebet oder nehmen unser Kind beim Überqueren der Straße sicher an die Hand. Aber unsere Hände können auch zornig auf den Tisch hauen oder vor Aufregung zittern. Sich achtsam der Bedeutung unserer Hände bewusst zu werden, verändert etwas in unserer täglichen Haltung. Wir handeln dadurch bewusster, spüren auch mehr Dankbarkeit und lassen Gesten, wie beispielsweise ein liebevolles Streicheln, viel offener in unser Herz fließen.

Die Augen für das Schöne öffnen.

Vor vielen Dingen verschließen wir unsere Augen, weil wir sie uns nicht ansehen wollen, zum Beispiel schlechte Gewohnheiten oder vermeintliche Schwächen. Das ist bequemer, nur nährt es leider weiterhin unsere Unzufriedenheit. Hildegard von Bingen ging es beim „Sehen“ darum, etwas in Augenschein zu nehmen. Ihr wurde schnell klar, dass gerade die Sachen, die wir nicht anschauen wollen, weiterhin in unserem Geistesbewusstsein zirkulieren und uns langfristig krank machen. Und ebenso ging es ihr um das wirkliche Sehen. Denn wie oft verlieren wir im Trubel des Alltags den Blick für die Schönheit, die uns täglich umgibt. Sei es eine Blume, die Formation der Wolken oder ein nettes Lächeln eines Unbekannten. Richtig Sehen, bedeutet achtsam schauen. Und es bedeutet mit einem klaren und wertfreien Blick zu schauen. Unser Blick ist generell geprägt von Erfahrungen und Konditionierungen. Achtsam heißt also auch, diese Färbungen zu erkennen, um sich davon zu lösen und wie ein Kind die Welt staunend zu betrachten. Je achtsamer wir schauen, desto freier werden wir auch von Vorurteilen.

„Die Seele durchdringt die Augen, denn sie sind ihre Fenster, durch die sie die geschöpfe erkennt.“

Hildegard von Bingen*

 Hildegard von Bingen versuchte mit ihren Texten die Menschen für ein bewusstes Leben wachzurütteln, für eine Gewahrwerdung der körperlichen, geistigen und seelischen Zusammenhänge. Damit ist Hildegard von Bingen im Grunde eine frühe Lehrerin der Achtsamkeit. Denn sobald wir achtsamer leben, übernehmen wir geradezu automatisch auch viel mehr Eigenverantwortung. Wir vertrauen mehr und mehr in uns selbst und in das Leben. Wir werden sensibler für die Zusammenhänge des Großen Ganzen. Letztendlich entdecken wir unsere eigene innere Stimme. Indem wir dieser Stimme in uns achtsam lauschen, werden wir selbstsicherer durchs Leben gehen, frei von Zweifel und Sorge. Vertrauen ist eins der größten Geschenke, die uns das Studium der Hildegard von Bingen Schriften mit auf den Weg gibt. Vertrauen in uns selbst und in die Gesetze des Lebens.

„Denn die Menschen, die in ihrer Gesinnung wie in ihren Handlungen unbeständig sind, werden durch das Unstete, das  sich in ihrer geistigen Haltung zu bilden pflegt, nur zu häufig in die Sorge um das Irdische verstrickt, die den himmlischen Dingen geradezu entgegengesetzt ist und die nicht die Nahrung und Erfrischung des Lebens sucht.“

Hildegard von Bingen*

* Alle Zitate aus:

  • Liber Vitae Meritorum: Der Mensch in Verantwortung (Das Buch der Lebensverdienste)
  • Liber Divinorum Operum : das Buch vom Wirken Gottes (Welt und Mensch)
  • Causae et Curae: Ursprung und Behandlung der Krankheiten
  • Physica: Heilkraft der Natur

Weitere Informationen zur Achtsamkeit

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